Ich bin nicht der erste in der Familie, der den Beruf des Kirchenmusikers ergriffen hat. Schon mein Urgroßvater wirkte über 40 Jahre als Küster und Organist am „Altendorfer Dom“ in Essen-West. Seit vielen Jahren bin ich auf der Suche nach weiteren Informationen über das Instrument, auf dem er damals seinen Dienst tun durfte und bin jetzt fündig geworden. Anlass genug, an dieser Stelle Organist und Orgel kurz vorzustellen.
Mein Urgroßvater Josef Isenberg wurde am 15. Juni 1882 als ältestes von zwölf Kindern in Altendorf bei Essen geboren. Nach einer Malerlehrer – er wollte erst Kirchenmaler werden – übernahm er 1899 das Amt des Hilfsküsters an St. Mariä Himmelfahrt in Altendorf. Schon sein Vater Josef Anton Isenberg (im Hauptberuf Steiger an der Zeche Hagenbeck) hatte ehrenamtlich als Rendant an St. Mariä Himmelfahrt gearbeitet.
Das ehemalige Bauerndorf Altendorf hatte in den letzten Jahrzehnten durch die Expansion der Kruppwerke im Zuge der Industrialisierung stark an Größe gewonnen, so dass die Gründung
einer neuen Pfarrei mit einer eigenen Kirche notwendig geworden war. Die 1872/73 errichtete Notkirche wurde zwanzig Jahre später durch den Bau der großen St.-Mariä-Himmelfahrt-Kirche abgelöst,
die vom Straßburger Dombaumeister Franz Schmitz im neugotischen Stil entworfen worden war. Nach einjähriger Bauzeit war der Bau 1892 fertiggestellt, 1897 folgte die feierliche Konsekration.
Aufgrund ihrer monumentalen Ausmaße – sie fasste über 3000 Menschen! – trug die Kirche auch den Beinamen „Altendorfer Dom“.
Im Jahr 1903 erhielt die Kirche eine große Orgel aus dem Dorstener Betrieb Franz Breil. Noch mein Opa erzählte mir – als sich abzeichnete, dass ich auch das Orgelspiel erlernen
wollte – immer stolz von der Breil-Orgel, wobei der Name Breil durchaus als Qualitätsmerkmal galt! Eine Abbildung der Orgel, die ich jetzt auf einem alten Werbeblatt der Firma Breil fand, gibt
uns einen Eindruck von dem beeindruckenden Instrument. Der neugotische Prospekt mit seinen zwölf Pfeifenfeldern umrahmte die (von außen hinter Arkadenbögen verborgene) große Fensterrosette
zwischen den beiden Türmen der Westfassade. Ein nahezu baugleiches Orgelgehäuse ist bis heute in der 1909 von Breil erbauten Orgel in der St.-Martinus-Kirche Herten-Westerholt erhalten. Über die
Disposition gibt der Orgelmeldebogen Auskunft, der zur Ablieferung der Pfeifen für die Rüstungsindustrie ausgefüllt werden musste. Die 45 klingenden Register auf drei Manualen und Pedal wurden
über pneumatische Trakturen bedient:
I. MANUAL
Prinzipal 16'
Bordun 16'
Prinzipal 8'
Fugara 8'
Harmonieflöte 8'
Dolce 8'
Flauto major 8'
Quintflöte 5 1/3'
Oktave 4'
Viola 4'
Flöte 4'
Rauschquinte 2f. 2 2/3' + 2'
Cornett 4f.
Mixtur 4f.
Fagott 16'
Trompete 8'
II. MANUAL
Gedackt 16'
Prinzipal 8'
Viola di Gamba 8'
Aeoline 8'
Hohlflöte 8'
Doppelflöte 8'
Quintatön 8'
Oktave 4'
Flauto dolce 4'
Flautino 2'
Sexquialter 2 2/3' + 1 3/5'
Clarinette 8'
III. MANUAL
Liebl. Gedackt 16'
Geigenprincipal 8'
Salicional 8'
Vox coelestis 8'
Zartgedackt 8'
Traversflöte 4'
Piccolo 2'
Oboe 8'
PEDAL
Prinzipal 16'
Violon 16'
Salicetbas 16'
Subbass 16'
Quintbass 10 2/3'
Oktavbass 8'
Violoncello 8'
Posaune 16'
Trompete 8'
Im Juli 1907 wurde mein Urgroßvater zum Hauptküster und Organisten am „Altendorfer Dom“ ernannt. Heutzutage können wir uns kaum vorstellen, was für ein Arbeitspensum mit diesem Beruf verbunden war. Allein am Sonntagvormittag wurden ab den frühen Morgenstunden quasi im Stundentakt Gottesdienste gefeiert, und auch an den übrigen Tagen gab es eine große Zahl an Gottesdiensten und Andachten, für die der Küster und Organist natürlich zur Vor- und Nachbereitung und zur musikalischen Begleitung gefragt war. Da wundert es nicht, dass er sich – so die Familienüberlieferung – eines frühen Morgens auf den Weg zur Kirche machte, die nur rund 150 m von zuhause entfernt war, und dabei aus Versehen unter seinem Gehrock nur die nächtliche lange Unterhose anhatte… Das Gehalt war dennoch kärglich, so dass sich Josef Isenberg nebenbei mit privatem Klavierunterricht und als Kassenbote bei Kaffee Sträter in Essen einen Zuverdienst erwerben musste. Zusammen mit seinem jüngeren Bruder Johannes hatte er zudem einen Singkreis, den „Freundschaftsbund“, gegründet, dem er auch als Dirigent vorstand. (Der 16 Jahre jüngere Bruder Aloysius ging übrigens zum Kirchenmusikstudium nach Regensburg, wo er bei Peter Griesbacher studierte, und übernahm später die Organistenstelle an St. Barbara Essen-Mitte sowie die Leitung eines Knabenchores am Altendorfer Dom.)
1910 hatte Josef Isenberg die zwei Jahre jüngere Katharina Gawenda geheiratet, mit der er fünf Kinder bekam – darunter als Erstgeborener mein Opa Josef Isenberg jun. Im April 1915 musste er seine schwangere Frau mit zwei kleinen Kindern alleine zurücklassen: Er wurde als Soldat im Ersten Weltkrieg eingezogen. Ein zerknittertes Foto seiner Frau mit den inzwischen drei kleinen Kindern ist bis heute in Familienbesitz erhalten – mein Urgroßvater hatte es in seiner Tasche als Soldat immer mit dabei.
Erst nach 25 Jahren im Dienst der Kirche gewährte die Pfarrgemeinde ihm das Recht auf ein Ruhegehalt und Hinterbliebenenfürsorge, so dass er auch im Alter abgesichert war!
Mit den 1930er Jahren begann für Deutschland eine schwere Zeit, und auch privat folgten einige Schicksalsschläge. Der erste große Schicksalsschlag war der Tod seiner Ehefrau im Jahr
1936, als die jüngste Tochter – meine Großtante – gerade einmal 13 Jahre alt war.
Im April 1939, kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, konnte Josef Isenberg sein 40-jähriges Jubiläum als Küster und Organist begehen. Doch die Bedingungen wurden immer schwieriger.
Ein im Familienarchiv erhaltenes Foto zeigt meinen Urgroßvater 1942 bei der Ablieferung der Kirchenglocken für die Rüstungsindustrie – auch die Orgel sollte ihrer Prospektpfeifen beraubt
werden.
Der Sommer 1943 bedeutete schließlich die komplette Zerstörung der beruflichen und privaten Grundlage. Durch die unmittelbare Lage an der Krupp-Gussstahlfabrik (die als „Deutsche
Waffenschmiede“ bezeichnet wurde) war Altendorf einem intensiven Bombardement der alliierten Kräfte ausgesetzt. Mit dem Luftangriff am 26. Juli 1943 – nur drei Wochen nach der Geburt des ersten
Enkelkindes, meiner Patentante – wurden die private Wohnung
der Familie Isenberg in der Haskenstraße 15 sowie auch der „Altendorfer Dom“ zerstört. Damit endete auch der aktive Dienst meines damals 61-jährigen Urgroßvaters als Küster und Organist am
„Altendorfer Dom“, er zog zu Verwandten zunächst nach Essen-Frohnhausen, später dann nach Essen-Steele und zuletzt nach Limbergen bei Dülmen.
Josef Isenberg verstarb am 24. Januar 1968 im hohen Alter von 85 Jahren. Seine Ruhestätte fand er als ehemaliger Kirchenbediensteter auf dem Helenen-Friedhof in Essen-West, wo der Grabstein bis heute an den Küster und Organisten Josef Isenberg erinnert.
Vor über 20 Jahren – kurz nach meinem Abitur – habe ich im August 1999 die ehemalige Wirkungsstätte meines Urgroßvaters besucht. 1952 war die Kirche nach der Kriegszerstörung in vereinfachten
Formen wiederhergestellt und erhielt 1966 eine neue Orgel an der Rückwand des Altarraumes aus der Werkstatt Johannes Klais in Bonn.
Das große Interesse an der Musik hat die Generationen überdauert. So nimmt es nicht Wunder, dass ich nun – hundert Jahre nach meinem Urgroßvater – wieder die Kirchenmusik zu meinem
Beruf gemacht habe.
Bildquellen: Breil-Orgel in St. Mariä Himmelfahrt Essen-West (Werbeblatt der Fa. Breil im Nachlass Reuter, LWL-Archivamt Münster, Best. 915/958); Altendorfer Dom (Familienarchiv Isenberg); Glockenablieferung 1942 (Familienarchiv Isenberg); Klais-Orgel von 1966 (Kath. Kirchengemeinde St. Antonius Essen) | Dank gilt Heinz-Josef Clemens, Mönchengladbach, für die Übermittlung der Orgel-Disposition des Meldebogens.
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