Zweimal Walcker – zwei verschiedene Welten

Zwei Instrumente von einem der profiliertesten Orgelbetriebe Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert – E. F. Walcker & Cie. aus Ludwigsburg –, nur 10 km von einander entfernt und mit nur vier Jahren zeitlichem Abstand gebaut. Und doch sind es zwei unterschiedliche musikalische Welten, die ich am gestrigen Mittwoch an der Grenze zwischen südlichem Ostfriesland und nördlichem Emsland erleben durfte.

Zunächst war ich am frühen Nachmittag zu Besuch im Gemeindezentrum der ev.-freikirchlichen Gemeinde (Baptisten) in Westoverledingen-Ihren. Dort steht eine Orgel mit interessanter Geschichte: In den 1930er Jahren war dort in der Baptistengemeinde der junge Kirchenmusiker und spätere Glocken- und Orgelsachverständige Enno Popkes als Organist und Chorleiter aktiv. Auf sein Betreiben hin wurde 1931 eine kleine pneumatische Walcker-Orgel (Opus 2323) mit neun Registern angeschafft, die nach einer Umdisponierung durch Orgelbau Kreienbrink in den 1970er Jahren bis heute im Besitz der Baptistengemeinde Westoverledingen ist.
Die musikalischen Schwerpunkte der Gemeinde haben sich inzwischen verändert und so hat die Gemeinde nun den Beschluss gefasst, ihr Instrument zu verkaufen. Da eine katholische Kirchengemeinde aus meinem Zuständigkeitsbereich, dem Offizialatsbezirk Vechta, Interesse am Kauf des Instruments hat, hatte ich mich nun auf den Weg gemacht, um die Orgel in Augenschein zu nehmen. Trotz der vergleichsweise wenigen Register und der neobarocken Veränderungen war ich überrascht über die Tragfähigkeit und Wandlungsfähigkeit des Klanges auch in einem so recht trockenen Raum wie dem komplett mit Teppich ausgelegten Baptisten-Gemeindezentrum. Besonders angetan war ich von dem füllig-warmen Gedackt im II. Manual, etwas blass hingegen ist die Weidenpfeife 8' im I. Manual. Natürlich sind einige Instandsetzungs- und Anpassungsmaßnahmen bei einer Versetzung notwendig – auch die ein oder andere Dispositionsanpassung sollte diskutiert werden. Ich blicke gespannt auf den weiteren Fortgang der Angelegenheit und würde mich freuen, meinen Beitrag für den Fortbestand dieses interessanten kleinen Instruments an einem neuen Ort leisten zu können.

Wo ich schon mal in der Gegend war, nahm ich kurz entschlossen die Gelegenheit wahr zu einem Besuch der „neuen“ Orgelanlage im nur 10 km entfernten Papenburg. Auch hier in der großen neugotischen Stadtpfarrkirche St. Antonius steht eine Walcker-Orgel – nur vier Jahre älter als das Ihrener Instrument, aber mit 99 Registern nicht unwesentlich größer (sogar die größte Orgel Niedersachsens) und mit einer nicht minder bewegten Geschichte. Die Firma Walcker baute 1927 ihr Opus 2150 als Konzertsaalorgel mit 92 Registern für das Hans-Sachs-Haus in Gelsenkirchen. Die Orgel erfuhr in ihrer Geschichte mehrfach Veränderungen und als nach einer 2002–07 erfolgten Restaurierung durch die Orgelbauwerkstatt Seifert in Kevelaer kein Platz mehr in dem renovierten und umgebauten Hans-Sachs-Haus war, musste die Orgel zunächst eingelagert werden und auf einen neuen Aufstellungsort hoffen. Der fand sich, als die Stadt Gelsenkirchen das Instrument 2017 für einen symbolischen Preis von 1 Euro an die Kirchengemeinde St. Antonius in Papenburg verkaufte. Es erfolgte erneut eine aufwändige Überarbeitung und Anpassung an den neuen Standort durch die Fa. Seifert. Große Wellen schlug (im wahrsten Sinne des Wortes) das neue, moderne Gehäuse – ein preisgekrönter Architektenentwurf durch das Büro Königs Architekten aus Köln. Am 26./27. September 2020 konnte schließlich die fertige Orgel in Papenburg eingeweiht werden – das unter Corona-Bedingungen stattfindende Einweihungskonzert hatte ich seinerzeit über Livestream mitverfolgt.
Ich war nun einerseits sehr gespannt auf die Wirkung des monumentalen Gehäuses im Raum als natürlich andererseits auch auf den Klangeindruck. Herzlich danke ich Regionalkantor Ralf Stiewe, dem „Hausherrn“ an dem prächtigen Instrument, der spontan seine Zeit opferte, um mir begeistert und ausführlich „seine“ Orgel vorzustellen. Ein so vielfältiges Instrument ist in der Kürze der Zeit (leider blieben mir nur rund anderthalb Stunden, bevor ich den Heimweg antreten musste) kaum in der Gänze seiner Möglichkeiten zu erfassen – bei Gelegenheit muss ich unbedingt noch mal in Ruhe und mit genügend Zeit dort hinfahren.
Zunächst ließ ich die Orgel optisch im Raum auf mich wirken: Auf bzw. weit vor der Westempore hervorkragend befindet sich die Hauptorgel mit ihren vier Manual- und den Pedalwerken. Wie auch damals im Hans-Sachs-Haus sollten hier die Pfeifen nicht zu sehen sein – sie scheinen nur leicht durch die wellenartig geformten Lamellen der großen „Klang-Boxen“ hindurch. Auf den Fotos, von denen ich die Orgel bisher nur kannte, wirkte das immer sehr bombastisch und unpassend. Im nur leicht beleuchten, großen Raum der St.-Antonius-Kirche verliert das Gehäuse jedoch an Monumentalität und fügt sich erstaunlich gut in den Gesamteindruck ein. Natürlich ist und bleibt die Orgelskulptur mit ihren harten Formen immer als Fremdkörper erkennbar – damit ist die Orgel unübersehbar präsent, aber sie dominiert nicht den Raum. Und je nach Betrachtungswinkel bilden die Wellenformen der Lamellen immer wieder neue, changierende Muster, so dass man das Gehäuse in seiner Feinstruktur nie so ganz erfassen kann. Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten, aber das Papenburger Orgelgehäuse ist jedenfalls eines, das „Aufhorchen“ lässt und zur Beschäftigung einlädt.
Das ehemalige Fernwerk ist vorne im rechten Seitenschiff auf einem Chorpodest mit Stufen aufgestellt. Auch hier ist das Pfeifenwerk durch Holzlamellen verdeckt, die jedoch streng senkrecht angeordnet sind und einen offeneren Blick auf das dahinterliegende Pfeifenwerk erlauben. Dadurch wirkt das Gehäuse nach meiner Meinung etwas zu massiv und wird eher als Fremdkörper wahrgenommen als das Hauptgehäuse auf bzw. vor der Empore. Sehr schade finde ich, dass die Wandmalereien hinter der Chororgel durch das Instrument vollkommen verdeckt werden – da ist die Graustufen-Nachbildung der Malereien auf den Seitenwänden der Orgel ein nur sehr schwacher Trost.
Der fahrbare Spieltisch als große Schaltzentrale der Orgelanlage kann an mehreren Stellen im Kirchenraum angeschlossen werden, hat aber seinen Stammplatz hinten rechts unterhalb der Hauptorgel hinter den letzten Bankreihen. Sehr edel wirkt die Kombination aus den schwarz-glänzenden Flächen, den stilvollen Holzschnitzereien und der stimmungsvollen LED-Beleuchtung. Optisch ist der Spieltisch eine – wie ich finde – optimal gelungene Synthese zwischen alten und neuen Stilelementen sowie einer übersichtlichen Funktionalität.
Zum Klanglichen hier nur ein paar Eindrücke – für mehr müsste ich mir einfach mal bei Gelegenheit mehr Zeit lassen. Im Grund genommen lässt eine solch üppige Disposition ja kaum noch Wünsche offen. Beeindruckt hat mich die orchestrale Vielfalt und Mischungsfähigkeit der Klänge! Es entsteht niemals ein im negativen Sinne romantisch-dicker, zäher Klang, sondern alle Stimmen klingen charakterstark, edel und gut hörbar. Trotz einer großen Eigencharakteristik der Register verfügt die Orgel über eine frappierende Mischfähigkeit. Als ein Beispiel seien die beiden tiefen Aliquoten (Gedacktquinte 5 1/3' und Gemshornterz 3 1/5') im IV. Manual genannt, die sich wunderbar mit den Achtfüßen (und Vierfüßen) des Werkes kombinieren lassen und zu fast zungenartigen Klängen formen. Englische Noblesse verströmen z. B. die beiden Zungenstimmen Posaune 8' im IV. Manual oder Tuba 8' im I. Manual. Wunderschön auch die durchschlagende Klarinette 8' im II. Manual oder auch dort das noble Rankett 16'. Ein bisschen schade ist, dass die Unda maris im II. Manual wohl aus baulichen Gründen kaum zum Schweben zu bringen ist. Aber es ist ja nicht so, dass es nicht genügend andere schwebende Stimmen sowie Streicher in allen Fußtonlagen gäbe. Ich muss gestehen, dass ich auch eine gewisse Neigung zu weit entfernteren Teiltonregistern habe, wie z. B. Septime im II. Manual – diese Klänge machen einfach Spaß. Auf ihre ganze eigene Weise bringen so auch die beiden Register „Obertöne“ im Pedal noch einmal eine besonders reizvolle Klangfärbung mit sich. Die Schwellwirkung der drei Schwellkästen der Hauptorgel sowie der Chororgel bieten eine große dynamische Bandbreite.
Und letztlich konnte ich trotz der Masse an Registern beim Gang durch den Raum feststellen: Die Orgel klingt im Raum nie erdrückend, sondern fügt sich präsent, aber „wohlwollend“ in den Raum ein. Insofern lässt sich da schon eine gewisse Parallele zu dem Orgelgehäuse sehen: Sowohl optisch als auch klanglich ist die Orgel sehr präsent im Raum, überfrachtet ihn aber nicht – wenngleich ich den Klang jetzt eher als edel und rund bezeichnen würde, während das Gehäuse eher provokativ und kantig ist.
Die Orgel ist in jedem Falle eine Reise wert. Herzlicher Dank gilt noch einmal Ralf Stiewe für die Zeit, die er mir an und mit der Orgel geschenkt hat. Und einen Glückwunsch an den Intonateur Marco Ellmer, der hier wirklich ein Meisterwerk der Intonationskunst abgelegt hat.
Es war auf jeden Fall ein Erlebnis, zwei in jeder Hinsicht nahestehende und doch so unterschiedliche Instrumente an einem Tag erleben zu können, die doch beide auf ihre Weise überzeugen konnten.

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